Leserbrief 24: Handaufzucht?
Ihr Buch hat mich schon in seiner Verständlichkeit fasziniert, aber wie groß war erst meine Freude, Sie auch noch online zu wissen. Trotz intensiver Durchforstung Ihrer Seiten bleiben für mich noch etliche Fragen offen, will aber heute nur auf ein z. Z. anstehendes Problem meinerseits Ihre Hilfe erbitten. Es entsteht in mir der Gedanke, daß ich mal wieder einer Traumwelt nachjage, nachdem ich keinerlei Hinweis auf Handaufzucht bei Zebrafinken stoße. Hatte gehofft, daß ich auf Erfahrungshinweise von Optimisten stoße, die es auch versuchten, von den Elterntieren "vergessene Zöglinge" mit menschlicher Hilfe den Weg ins Vogelleben zu bahnen.
Der Sachverhalt: Bemühe mich um die Lebenserhaltung eines am 1. Dezember geschlüpften Jungtieres, das ab dem 10. Dezember von den Elterntieren nicht mehr versorgt wurde, ja sogar überbaut und, nachdem dies nicht klappte, aus dem Nest geworfen wurde. Hatte zwar keine Hoffnung, aber instinktiv handelte ich nun mal und bewaffnete mich mit Pinzette und allerlei Futtermixturen. Nun lebt es schon sieben Tage so, was natürlich nur meine derzeitige Arbeitslosigkeit ermöglicht, aber große Fortschritte im Federkleid oder Wachstumsmerkmale bleiben aus.
Meine Frage: Hat dieses Tier überhaupt eine Überlebenschance und wenn ja, was muß dafür getan werden; und wenn nein, was unterscheidet sie von anderen Vogelarten, wo ja solche Versuche schon erfolgreich waren. Hoffe auf eine recht baldige Antwort, da die Zeit drängt. Auch wenn der kleine Zögling die Beantwortung nicht mehr miterlebt, bin ich auch für die Zukunft sehr an diesem Problem interessiert und hätte gerne Erfahrungen von Liebhabern, die ebenfalls schon mal vor diesem Problem standen denn nicht alle können sich so leicht mit dem manchmal grausam erscheinenden Verlauf der Natur abfinden.
Auf Hilfe hoffend bedankt sich schon mal im voraus,
Bärbel U. [barbad@w4w.de]
Grundsätzlich kann man Zebrafinken durchaus mit der Hand aufziehen, wenn dieses auch keineswegs leicht ist und oft nicht gelingt. Handaufzuchten wurden und werden hier allerdings nicht wie bei anderen Vogelarten praktiziert, um eine gefährdete Art wenigstens in Menschenhand zu erhalten oder um sich vorsätzlich ein zahmes Haustier heranzuziehen, das keine Scheu vor dem Menschen hat und sich ihm mangels Artgenossen anschließt: Beim Zebrafinken geschah und geschieht es aus experimentellem und wissenschaftlichem Interesse, wie etwa die Fotos und Erläuterungen in Klaus Immelmanns bekanntem Werk Der Zebrafink von 1968 (S. 63, 64 und 92) belegen (Zebrafinken-Literatur).
Folgendes sollte man beachten, wenn man einen Zebrafinken selber aufziehen möchte:
Die Technik der Aufzucht entscheidet über das Überleben des Jungvogels. Wichtig sind:
- das Futter: Brauchbar ist eine Mischung aus handelsüblichem Aufzuchtfutter, Eiweiß und Eigelb, etwas Quark und zerriebene Möhre; anfangs sollte man auch etwas Babybrei hinzufügen, später auch gekeimte Hirse. Was den Nestlingen so dennoch fehlt, sind Antikörper zur Stärkung ihrer Abwehrkräfte, die ihnen die Elternvögel mit ihrem Speichel verabreichen.
- die Fütterungszeiten: Nicht soviel wie möglich auf einmal füttern und erst recht nicht, wenn man gerade mal Lust oder Zeit dafür hat, sondern von morgens bis abends in mehr oder weniger gleichen Abständen und in kleinen Mengen; so geschieht es schließlich auch in der Natur.
- die Fütterungstechnik: Dem Alter angemessen zunächst z. B. mit einem stumpfen Zahnstocher, damit der winzige Körper nicht verletzt wird, und später vielleicht mit einer kleinen Einwegspritze, falls das Futter dünnflüssig genug ist. Der Kropf sollte nie prall gefüllt werden (s. Fütterungszeiten), damit das Futter zügig verwertet wird und nicht fault.
Die Gefahren einer Fremdaufzucht sind weder im Interesse des Vogels noch (hoffentlich) des Menschen:
- Die Handaufzucht kann einen Zebrafinken mehr oder weniger stark auf den Menschen "prägen" mit der Folge, daß er sinen Pfleger für einen Artgenossen hält und schließlich auch für seinen Geschlechtspartner. Dieses Phänomen wurde 1935 erstmals von dem berühmten Verhaltensforscher Konrad Lorenz am Beispiel der Graugänse beschrieben.
- Verhaltensstudien an Zebrafinken haben ergeben, daß diese vom Zeitpunkt der Selbständigkeit (nach der vierten Woche) bis zur vollendeten siebten Lebenswoche eine "sensible Phase" durchleben, in der das Objekt ihrer späteren (!) Triebhandlungen endgültig fixiert wird. Genau genommen ist die Prägung bereits bis zur vollendeten vierten Woche erfolgt; wenn sie aber bis dahin auf ein falsches, von der Natur nicht vorgesehenes Objekt (eine andere Vogelart oder den Menschen) erfolgte, kann bis zum 50. Lebenstag noch eine Korrektur bzw. Umprägung erfolgen.
- Daraus folgt, daß ein handaufgezogener Zebrafink sofort und ohne falsche Gefühlsdudelei bei Erreichen der Selbständigkeit unter Artgenossen muß. Jeder weitere Kontakt, etwa um dem "Kleinen" den Abschied nicht so schwer zu machen, kann eine lebenslange Fehlprägung bewirken, nämlich eine Fixierung auf einen Menschen, der seiner Rolle als "Ersatzpartner" natürlich nur wenige Minuten am Tag gerecht werden kann.
Ob sich der kleine Zebrafink bisher entsprechend seinem Alter entwickelt hat, können Sie durch einen Vergleich mit den "Nachwuchs"-Fotos in meinem Buch oder im "Fotoalbum" dieser Website abschätzen.