Schnabel- und Krallendeformationen
Überlanger Schnabel Überlanger Schnabel · Taxonomie Kreuzschnabel · Hyperkeratose Hyperkeratose · Anatomie Anatomie · Ursachen Ursachen · Therapie Therapie

Überlange und deformierte Schnäbel und Krallen sind bei Käfig- und Volierenvögeln nicht selten zu beobachten und eine ständige Erinnerung daran, daß die Vogelhaltung im Vergleich zum Freileben eben nicht natürlich ist. Daß diese Anomalien nicht nur unschön aussehen, sondern sogar lebensbedrohend sein können, zeigen folgende Fälle.

1. Überlanger Schnabel

Bei einem älteren Zebrafinkenweibchen (6–7 Jahre) stellte sich nach dem Tod des Partners übermäßiges Schnabelwachstum ein: Die hellrote Hornscheide (Ramphotheka) wuchs zu einem zunehmend langen und dünnen "Insektenfresserschnabel" aus, der regelmäßig mit der Schere gekürzt wurde, sobald sich der Oberschnabel (Rhinotheka) an seiner Spitze vom unteren Hornschnabel (Gnathotheka) abzuheben und nach oben durchzubiegen begann. Ein früher Zeitpunkt erschien nicht ratsam, weil das Schnabelwachstum nicht durch allzu häufiges Beschneiden angeregt werden sollte. Diese Zurückhaltung hätte dem Vogel einmal leicht das Leben kosten können:
    Eines Tages war in der Voliere ein seltsames kurzes Flattern und Fallen zu hören. Eine sofortige Überprüfung ergab, daß sich das Weibchen den Unterschnabel beim Gefiederputzen in die Haut über dem Kropf gestochen hatte und ihn nun nicht mehr herausbekam. Hilflos saß es mit gestreckter Nackenmuskulatur und offenem Schnabel auf der Stange, und weder Wischbewegungen des Schnabels noch kurzes Auffliegen konnten das Tier aus seiner lebensgefährlichen Lage retten.
    Mit einem Trennschieber isolierte ich es sofort in einer Volierenhälfte und fotografierte es schnell mit einer gerade schußbereiten Kamera (siehe unten), bevor ich es ergriff, den aufgespießten Kropf mit einem Zahnstocher nach vorn vom Unterschnabel herunterschob und schließlich den Schnabel wieder in Form schnitt. Das Zebrafinkenweibchen hat den Unfall völlig unbeschadet überstanden.

Zebrafinken.W.: überlanger Oberschnabel   Überlanger Unterschnabel im Kropf
Weibchen mit deutlich verlängertem Oberschnabel, der alle paar Wochen gekürzt werden muß.   Dieses Weibchen hat sich den verlängerten Unterschnabel in den Kropf gestochen! (s. Text)

2. Kreuzschnabel

Bei Prachtfinken kommt es auch vor, daß die Spitzen von Ober- und Unterschnabel plötzlich schräg nach vorne rechts bzw. links weiterwachsen, sich also kreuzen. Die unmittelbare Ursache für solche "Kreuzschnäbel" kann wie im zuvor beschriebenen Fall darin liegen, daß sich die beiden Spitzen nicht mehr berühren und ohne den gegenseitigen Druck ungehindert weiterwachsen.
    Wie es zu einer solchen Fehlstellung kommen kann, zeigt eine anderer, drastischer Fall: Ein Guayaquilsittich in der Flugvoliere eines bekannten Züchters hatte von einem Tag auf den anderen ein "schiefes Maul": Er war von einer aggressiven (weil verpaarten) weiblichen Blaustirnamazone so heftig attackiert und gebissen worden, daß Ober- und Unterschnabel fortan nicht mehr gerade (d. h. senkrecht) übereinander standen. Besonders der Unterschnabel wuchs nun, da seine Spitze neben den Oberschnabel lag, ungebremst an diesem vorbei nach oben. Die Behinderung der Nahrungsaufnahme war bald so stark, daß der Hornschnabel regelmäßig gekürzt werden mußte, um den Vogel am Leben zu halten.

3. Hyperkeratose

Überlange und deformierte Schnäbel kommen auch bei anderen Papageienvögeln vor, besonders bei Kakadus und Wellensittichen. Vor allem letztere sind von einer weiteren eindeutigen Ursache übermäßigen Schnabelwachstums betroffen: Viermal bereits stellten mir bekannte Vogelhalter jeweils einen Wellensittich vor, dessen verlängerter und auch verbreiterter Schnabel vor allem an der Basis poröse weißliche Wucherungen aufwies. Diese übermäßige Verhornung bzw. Wucherung (Hyperkeratose) an Schnabelbasis und Beinen – auch an Augenlidern und Kloake – ist bei Sittichen sowie bei Kanarienvögeln gar nicht selten zu beobachten. Meist durch Räudemilben verursacht, führt sie früher oder später zu deformierten Schnäbeln bzw. verbogenen Krallen und Zehen. So häßlich und schlimm eine Räude (Krätze) ist, so erfolgversprechend ist eine Behandlung: Ich konnte allen vier Vögeln durch Beschneidung des Schnabels und Einpinseln mit Odylen helfen, das allerdings nicht mehr im Handel ist. ...

Auch überlange und deformierte Krallen kommen aufgrund übermäßigen Hornwachstums häufig vor. Die Gefahr, z. B. in ungeeignetem Nistmaterial (Kokosfaserknäuel, lange Wollfäden) oder am Volierengitter hängenzubleiben, wird durch lange, gekrümmte Krallen zusätzlich erhöht, Verstauchungen (Distorsionen), Verrenkungen bzw. Auskugelungen (Luxationen) und Brüche (Frakturen) sind mögliche Folgen. Krallen können sich bei mangelnder Abnutzung speziell auf flachen, glatten Böden um 90° verdrehen und liegen dann mit der flachen Seite auf dem Untergrund auf, was schließlich zu einer Deformation auch der Zehenglieder (Phalangen) führt und den Vogel unerträglich behindert.
Verlängerte Krallen     Eine andere Folge war vor Jahren in einer Voliere des Wuppertaler Zoos zu beobachten: Die Krallen einiger Webervögel waren so lang und so stark gekrümmt, daß die Tiere mit ihren Zehen überhaupt keinen Bodenkontakt mehr hatten, sondern erhöht wie auf Blöcken (siehe Abbildung) steif und ruckartig über den Volierenboden hüpften. Natürlich wurden die Vögel nach einem entsprechenden Hinweis sofort aus ihrer prekären Situation befreit.

4. Anatomie

Wieso und wie wachsen Schnabel und Krallen eigentlich? Schauen wir uns zunächst einmal den Vogelschnabel genauer an: Er besteht im Kern aus den Ober- und Unterkieferknochen und außen aus der sichtbaren Hornscheide (Rhamphotheka). Diese entsteht durch eine starke Verhornung der Oberhaut (Epidermis) , die aus einer äußeren Hornschicht (Stratum corneum) und einer inneren Keimschicht (Stratum germinativum) besteht. Unter der Keimschicht mit ihren "Basalzellen" (Stratum cylindricum) befindet sich die durchblutete Lederhaut (Corium), welche mit der Knochenhaut (Periost) eng verbunden ist.

Das Schnabelhorn entsteht nun lamellenförmig, also in Hornblättchen, auf der ganzen Schnabelfläche und schiebt sich nach vorn und zur Schnabelkante. Dabei fließt es nicht etwa parallel zur Keimschicht, sondern schräg nach außen. Das heißt also, das Schnabelhorn wächst nicht an der Spitze weiter, sondern von der Basis her nach vorn. Bringt man z. B. auf den Oberschnabel eines Kanarienvogels quer eine dauerhafte Markierung auf, wandert diese mit einer Geschwindigkeit von ziemlich genau 2,5 mm pro Monat zur Schnabelspitze. Und eine Verletzung des Schnabelhorns wandert nicht nur nach vorn, sondern wird auch zunehmend flacher, weil unter ihr neues Horn von der Lederhaut her zugebildet wird.

Außen schilfern die Hornlamellen trotz der Härte des Keratins ständig ab, da sie in sich fester zusammenhängen als untereinander. Je stärker die Beanspruchung des Hornschnabels, desto größer die Geschwindigkeit des Hornvorschubs. Die Abnutzung der Hornscheide erfolgt nicht nur durch äußere Beanspruchung  und Nahrungsaufnahme, sondern auch gegenseitig durch die beiden Schnabelhälften. Die verschiedenen Hornarten eines Vogelschnabels zeigt die Schemazeichnung. Die scharfen Schnabelkanten entstehen durch die größere Härte des inneren Deckhorns gegenüber dem weicheren Traghorn, einer Sonderbildung des Mundhöhlenhorns. Ähnliche Verhältnisse finden wir bei den Krallen, die ebenfalls kontinuierlich wachsen: Die untere Fläche – die Krallensohle – besteht aus weicherem Horn als die obere Fläche, die die scharfe Kante bildet.

Querschnitt des Oberschnabels Schematischer Querschnitt durch eine Hälfte eines Oberschnabels (nach M. LÜDICKE, 1941).
Die Farben dienen nur der Differenzierung; inneres und äußeres Deckhorn sind nicht immer so deutlich zu unterscheiden.

S = Schutzhorn; Ä = Äußeres Deckhorn, I = Inneres Deckhorn; T = Traghorn; B = Abnutzungskante;
M = Mundhöhlenhorn; A = Arterie; V = Vene; K = Knochen; C = Corium (L.haut); TL = Tragzellenleiste


In den Längsrillen des Oberschnabels läßt sich mit Hilfe der Zunge z. B. ein Korn fixieren, um es dann mit den Kanten des Unterschnabels aufzuschneiden, also zu enthülsen.

5. Ursachen

Wie kommt es nun zu übermäßigem Hornwachstum? Trotz vieler Erkenntnisse ist diese Folge bis heute nicht vollständig geklärt. Es trägt nämlich wenig zu einer Erklärung bei, daß unter identischen Haltungsbedingungen manche Mitglieder einer Vogelgruppe plötzlich lange Schnäbel und/oder Krallen bekommen, die meisten aber normal bleiben. Sollte das allein darauf zurückzuführen sein, daß einige Individuen etwas weniger bewegungsaktiv und neugierig sind und folglich ihre Krallen und Schnäbel nicht ausreichend durch Hüpfen und Picken (etwa an Kalksteinen) abnutzen? Auch freilebende einheimische Vögel haben gelegentlich stark verlängerte Hornschnäbel – auch eine Folge übermäßiger Trägheit? Ein Zebrafinkenmännchen bekam z. B. plötzlich einen zu langen Oberschnabel. Nach einem ersten Schnitt wurde der Hornschnabel erneut lang und spitz, verjüngte sich aber gleich hinter der karoförmigen Spitze wieder, bis diese von selbst abbrach. Seither ist der Schnabel wieder normal – wieso?

Einige bekannte Ursachen für Schnabel- und Zehendeformationen lassen sich aus den Fallbeispielen und der Anatomie ableiten, andere der veterinärmedizinischen Literatur entnehmen:

6. Vorbeugen & Therapie

Was kann man gegen übermäßiges Hornwachstum und Deformationen tun? Vorbeugen ist bekanntlich die beste Therapie. Für uns Vogelfreunde bedeutet das:

Zu dünne und richtige Sitzstange
Die linke Stange ist zu dünn, die rechte genau richtig!

Wenn es aber trotz aller Vorsorge passiert ist, sollte man auch einige Therapie-Möglichkeiten kennen:



deutsch  English  Nederlands  Zum Frameset "Krankheiten, Verletzungen, Erste Hilfe" © 14.12.1997 nach oben Sekundäre Gangrän